Naomi Novik: Deadly Education
Auf Naomi Novik wurde ich 2016 durch Uprooted (“Das dunkle Herz des Waldes”) aufmerksam, das Russ Allbery empfohlen hatte. Und ich war begeistert - wie ich auch in meinem damaligen Lesetagebuch berichtete.
2019 las ich dann Spinning Silver - auch eine gute Geschichte, die aber aus meiner Sicht nicht an Uprooted heranreicht.
Und nun habe ich letztes Jahr die ersten beiden Bände der Scholomance-Trilogie verschlungen - und wiederum im Lesetagebuch empfohlen.
Eine kurze Beschreibung mit einigen Spoilern:
Unsere Heldin ist magiebegabt und besucht eine Art magisches Internat - klingt nach einem weiblichen Harry Potter, könnte davon aber nicht weiter entfernt sein. Die Sache ist nämlich die: die magische Energie, die jeder Magiebegabte in sich sammelt (“Mana”), zieht gierige Monster (“Maleficaria”) an, die Mana verschlingen - und den Magier direkt mit. Mit vielen dieser Monster kommen Magier ganz gut klar, verfügen sie doch über fast unvorstellbare Macht; das gilt aber leider nicht für die magiebegabten Kinder. Wenn sich magische Kräfte in oder schon lange vor der Pubertät erstmals manifestieren, sind die künftigen Magier bereits ein appetitlicher Happen für die Maleficaria, aber weder von ihrem Mana noch von ihrem Wissen her in der Lage, sich gegen dreiköpfige Zerberusse oder andere Monster zu wehren. Sie werden daher in der Regel gefressen, wenn ihre Eltern sie auch nur kurz aus den Augen lassen. Ein wenig schützt es, wenn man sie unter einer Vielzahl von “normalen” Menschen versteckt - denn es fällt sehr viel schwerer, Magie zu praktizieren, wenn man von Menschen umgeben ist, die nicht daran glauben. Das gilt für Magier wie für Maleficaria, heißt aber eben auch, dass es kaum möglich ist, die eigenen magischen Fähigkeiten zu nutzen - und die dann wehrlosen magiebegabten Kinder und Jugendlichen werden oft eben doch gefressen.
Die Erwachsenen schließen sich zu “Enklaven” zusammen, magischen Konstrukten außerhalb unserer Welt, die nur wenige Übergänge in die Realität haben, die schwer bewacht werden; dort lebt, wer entweder dort geboren ist oder dort arbeiten darf - und wer gut arbeitet, bekommt vielleicht das Bürgerrecht, wenn nicht für sich, dann vielleicht für seine Kinder. Wer nicht in eine Enklave aufgenommen wird und sich selbst seiner Haut wehren und seine Kinder alleine schützen muss - tja, tragisch, aber jeder ist sich selbst der Nächste, nicht wahr?
Und um die Kinder zu schützen, haben sich im letzten Jahrhundert mehrere Enklaven zusammengeschlossen und die Scholomance geschaffen: eine magisch-mechanische Schule außerhalb der Realität, die nur über ein einziges Portal mit der realen Welt verbunden ist und sich ansonsten im Nichts befindet. Dieses Portal mündet an einem abgelegenen Ort in unsere Welt und ist von der anderen Seite, der Scholomance, nur von der Graduation Hall aus zugänglich, entlässt also die Schüler nach ihrem Abschluss auf diesem Weg zurück in die Welt. Die Neuzugänge werden an einem definierten Tag in die Schule hineinteleportiert - mit dem, was sie mitbringen dürfen (Platz und Gewicht sind beschränkt). Danach müssen sie dort selbst klarkommen: Lehrer oder andere Erwachsene gibt es nicht. Die Schule ist magisch-automatisiert und hat eine Quasi-Intelligenz entwickelt, die Schüler sind in die typischen Jahrgänge des anglo-amerikanischen Systems aufgeteilt: Freshmen, Sophomores, Juniors und Seniors - und auf sich allein gestellt. Essen erzeugt die Kantine magisch-automatisch, Lehrpläne und Aufgaben erschafft die Scholomance, die sie auch irgendwie bewertet; zum Abschluss des Schuljahres graudieren die Seniors, alle Schlafsäle rotieren eine Ebene weiter, und es kommen neue Freshmen. Seit etlichen Jahrzehnten dürfen nicht nur die ursprünglichen Enklaven ihre Kinder auf die Scholomance schicken, sondern alle Enklaven, und mittlerweile dürfen auch manche (aber längst nicht alle!) freien, unabhängigen, auf sich gestellten Magier ihre Kinder nach dort schicken.
Das Leben in der Scholomance ist allerdings keineswegs abenteuerlich-romantisch wie in Hogwarts, sondern vielmehr grauenhaft. Die Kinder und Jugendlichen sind völlig isoliert; wer als Freshman kommt, geht erst als Senior und hat ansonsten keinerlei Kontakte nach außen, außer vielleicht über Briefe, die man den Seniors mitgibt und die die Eltern den Freshmen mitgeben. Das geht allerdings von deren Gepäck ab und ist daher nicht umsonst, wie nichts im Leben. Genauso ist das mit Kleidung und allem anderen; wer nicht genug mitgebracht hat, wer Kleidung beschmutzt oder zerstört und sie nicht flicken kann, wer nicht von anderen etwas bekommt, hat dann eben keine (saubere) Kleidung mehr. Die Schule selbst befindet sich im Nichts, der Void - und alle Zimmer sind nach dort offen. Von dort kommen ab und neue Zaubersprüche und Bücher, aber es ist nicht besonders schön, seine Teenagerzeit in einem Internat ohne Ferien, ohne Telefon, ohne Briefe zu verbringen und ins Nichts zu gucken.
Das ist allerdings gar nicht das Hauptproblem. Das Problem ist vielmehr, dass nicht jeder die Scholomance erfolgreich abschließt, und wer sie nicht erfolgreich abschließt, der schließt sie gar nicht ab. Trotz aller Bemühungen kommen nämlich doch einige Maleficaria nach dort; manche der kleineren Exemplare und deren Larven werden mit den Freshmen eingeschleppt, aber die meisten kommen (trotz aller Schutzzauber, trotz aller magischen und mechanischen Kunst) von außen über das Portal in die Graduation Hall. Wände, Technik und Bannsprüche halten die meisten dort - aber nicht alle. Über Wasserleitungen, durch Lüftungsschächte und auf allen möglichen anderen Wegen gelangen sie dann in die Schule und attackieren die Schüler. Jedes Jahr kommen rund 1.600 Freshmen neu in die Scholomance; ungefähr 800 davon überleben bis zum Abschluss. Dann müssen sie allerdings durch die Hölle der Graduation Hall, wo sich die Maleficaria sammeln; darauf bereiten sie sich ihre ganze Schulzeit lang vor, sammeln Wissen, sammeln Mana, schließen Bündnisse, trainieren Körper und Reflexe - trotzdem überleben von den 800 Seniors bestenfalls die Hälfte, so dass also von jedem Jahrgang ungefähr ein Viertel die Schule lebend abschließt. Die anderen 75% sterben. Dennoch ist diese Überlebensquote signifikant höher als außerhalb der Scholomance - für die Kinder aus Enklaven noch mehr als für die anderen.
Denn auch in der Scholomance ist nicht jeder gleich. Die Enklaven schicken mit “ihren” Freshmen möglichst viele magische Artefakte in die Scholomance und organisieren die Weitergabe von den Älteren an die Jüngern; außerdem haben ihre Schüler einen gemeinsamen Mana-Pool, der über die Generationen aufgefüllt wird und an denen sich die Kinder aus der jeweiligen Enklave für das Überleben in der Schule, vor allem beim Graduation Run, bedienen können. Außerdem sind sie nicht nur auf sich gestellt; wer sich mit ihnen gut stellt, wer Dienstbotenaufgaben übernimmt, wer sich als besonders klug, besonders stark zeigt, der wird vielleicht in das Team der Enklave für den Graduation Run aufgenommen und hat damit bessere Überlebenschancen. Außerdem winkt die Aufnahme, vielleicht auch das Bürgerrecht in der Enklave. Natürlich haben die “externen” Kinder/Jugendlichen dann die viel gefährlicheren Außenpositionen in der Gruppe, die sich durch die Graduation Hall kämpft, aber wenn sie überleben, haben sie und ihre Kinder eine Zukunft. Und natürlich sind auch die Maleficaria nicht dumm: sie suchen sich schon während der Schulzeit die einfacheren Opfer - die Kinder, die nicht aus Enklaven kommen, die nicht reich an Mana und Artefakten sind, die nicht in einer Gruppe zusammenstehen, die Armen, die einfacheren Opfer. Für diese Kinder ist die Schulzeit eine vierjährige Isolation von allen Menschen, die sie kennen, in der sie Tag und Nacht in Lebensgefahr schweben und während der vier Jahre versuchen müssen, Bündnisse für den Graduation Run zu schließen und sich möglichst bei den Gruppen aus den verschiedenen Enklaven einzuschmeicheln, um in deren Team aufgenommen zu werden - um bis zum Abschluss zu überleben, um den Abschluss zu überleben und um dann eine Chance in einer Enklave zu bekommen.
Die Scholomance ist also eine dystopische “dog-eats-dog”-Welt, in der jeder an sich denken muss, wenn er überleben will. Natürlich ist es schlimm, wenn Klassenkameraden sterben - aber niemand hat Mana übrig, um es für deren Rettung zu verschwenden, und jeder ist insgeheim froh, nicht selbst gefressen zu werden. Und Lebensgefahr droht überall: im Essen finden sich nicht selten Gifte und Larven von Maleficaria; aus jeder Lüftungsöffnung, aus jeder Leitung kann jederzeit ein Monster schlüpfen. Manche Klassenräume, manche Labore liegen ungünstiger als andere - und wer überleben will, lernt schnell, dass man nicht zu nahe an solchen Öffnungen sitzen will, nicht zu nahe an der Tür (falls von dort ein Monster kommt), aber auch nicht zu weit weg (falls man durch die Tür flüchten muss). Und auch die schulischen Leistungen dürfen nicht zu schlecht werden: denn dann gibt es Zusatzaufgaben, die von Mal zu Mal gefährlicher werden.
All das war nicht ganz so gedacht. Eigentlich werden alle Räume und Gänge ein- bis zweimal durch ein magisches Feuer gereinigt (wer als Schüler trotz der Warnungen nicht rechtzeitig in seinem Zimmer ist, wird ebenfalls final gereinigt), aber es bleiben Maleficaria übrig, vor allem in der Graduation Hall. Eigentlich sollte diese ebenfalls einmal pro Jahr gereinigt werden; aber die entsprechende Maschinerie ist seit vielen Jahrzehnten defekt. Mehrfach wurde die Reparatur durch Teams von außen versucht; aber inzwischen hatten sich in der Graduation Hall so gefährliche Maleficaria festgesetzt, dass selbst erfahrene Teams erwachsener Magier kaum Überlebenschancen haben, wenn sie sich so lange dort aufhalten, wie das für eine Reparatur erforderlich ist. Und nach zwei, drei Jahren war die Machine wieder kaputt. Deshalb kommt seit Jahrzehnten niemand mehr über die Graduation Hall in die Scholomance; das bedeutet natürlich auch, dass auch in der Scholomance selbst keine Wartung mehr stattfindet - nur noch, soweit die Schüler das selbst können und tun. Diese Aufgaben übernehmen natürlich standardmäßig die “externen” Schüler; das gibt schließlich Pluspunkte bei den Enklave-Schülern.
In dieser Schule ist es also wichtig, gut zu sein, Zweckbündnisse zu schließen und in allererster Linie an sich zu denken. Als Außenseiter hat man es nicht nur sozial schwer - man schwebt buchstäblich in Lebensgefahr, weil man in der Kantine die “schlechteren” Tische bekommt (nahe an Abflüssen und Lüftungsöffnungen), wenn einem niemand Plätze an den “guten” Tischen freihält. Und wer niemand findet, der einen morgens und abends zu den Waschräumen begleitet und dort Wache steht und die Wasserleitungen und Abflüsse im Blick hat, der bleibt besser verschwitzt und ungewaschen, denn die Chance, das alleine zu überleben, steht schlecht.
Blöd nur, dass unsere Heldin eine Außenseiterin ist: eines der “externen” Kinder, von ihrer Mutter, die zuviel Fantasy gelesen hat, mit dem verhassten Vornamen “Galadriel” gesegnet, und jemand, den viele andere “komisch” finden und im Verdacht haben, den Weg der dunklen Magie zu beschreiten. Mana sammelt man nämlich vor allem durch körperliche Anstrengung und unangenehme Arbeit (Sit-ups, Liegestützen - oder auch Häkeln, jedenfalls, wenn man das hasst). Es gibt aber auch den einfacheren Weg: man kann das Mana - und das Leben - anderer Lebensweisen aussaugen und für sich verwenden. Bestenfalls verwendet man dazu kleine Tiere (die man natürlich erst einmal mitbringen muss - das braucht Platz!), schlimmstenfalls ermordet man seine Mitschüler. Das kam schon vor; vor einigen Jahren hat eine kleine Gruppe Seniors alle anderen Schüler ihres Jahrgangs getötet und so die Graduation Hall überlebt - deshalb haben insbesondere die Enklave-Schüler potentielle Schwarzmagier unter ihren Mitschülern im Blick, um sie rechtzeitig zu töten. Schließlich hat alles seinen Preis; und auch schwarze Magie hat ihren Preis an Körper, Geist und Seele. Unter anderem kann man mit der Zeit Mana nur noch aus anderen Lebewesen gewinnen, nicht mehr auf anderem Weg …
Unserer Heldin liegt allerdings nichts ferner als schwarze Magie; sie hat nämlich noch ein anderes Problem bzw. Geheimnis (und vermeidet auch deshalb soziale Kontakte, soweit das möglich ist): ihre Affinität. Jeder Magier hat eine Fähigkeit oder besondere Beziehung zu einer bestimmten Art von Magie, die ihm besonders leicht fällt - seine Spezialität, sozusagen. Es gibt Heiler, Handwerker, Alchimisten, auch Kämpfer - Galadriel, deren Mutter eine berühmte Heilerin ist, die zudem in einer Kommune lebt und ihre Gabe kostenlos (!) anbietet (wo doch in dieser Welt nichts umsonst ist!), hat allerdings eine ganz andere Affinität.
That sort of thing is always happening to me. Some sorcerers get an affinity for weather magic, or transformation spells, or fantastic combat mages like dear Orion. I got an affinity for mass destruction.
Wo andere Bücher über Zaubersprüche zum Spülen und Putzen finden, bekommt sie Sprüche zur Gedankenkontrolle über Hunderte, zur Erschaffung einer Schwarzmagierfeste, Dutzende Möglichkeiten zum Töden einzelner oder vieler Lebewesen oder einen Zauberspruch zur Erschaffung eines weltenzerstörenden Supervulkans geliefert. Das ist nur wenig hilfreich - denn solche Sprüche brauchen massenweise Mana, und wo soll das herkommen? Niemand würde Mana mit ihr teilen wollen, wenn er über ihre Affinität wüsste; und wenn sie zu schwarzer Magie greifen würde, würde nicht nur ihre Mutter sie niemals mehr ansehen, Schwarzmagier haben auch so keine besonders lange Lebensspanne. “Draußen” will man niemand herumlaufen haben, der seine magischen Fähigkeiten aus Menschenopfern gewinnt. Also verbirgt sie ihre Fähigkeiten … nur wie soll man ein Bündnis für den Graduation Run schmieden, wenn niemand um die eigenen Fähigkeiten weiß und einen für unnützen Ballast hält?
Der Lösung dieser Fragen ist Galadriel in ihrem Junior-Jahr noch nicht näher gekommen. Und es gibt andere Probleme, wie ihren Mitschüler Orion Lake, reich, aus einer Enklave - und zudem ein Held, der in den vergangenen Jahren hunderte Mitschüler gerettet hat, wie auch immer er das macht, und der damit alle in Gefahr bringt, denn dasselbe Prinzip des Ausgleichs, das das Kind einer Heilerin zu einer potentiellen Massenmörderin macht, sorgt dafür, dass sich zum einen die ganzen Maleficaria, die keine Beute finden, in der Graduation Hall sammeln, und dass zum anderen viel zu viele Schüler überleben, so dass Raum und Essen knapp werden.
Insgesamt kein guter Ausgangspunkt für eine Teenagerin; aber vielleicht wird sie ihren Weg machen? Bis dahin fasziniert die - wenn auch deprimierend dunkle - Welt, die die Autorin geschaffen hat, vor allem aber die Protagonistin, deren Ich-Erzählung nicht nur einen großartigen Ton trifft, sondern die sich trotz ihrer Affinität, trotz ihrer Außenseiterposition, trotz ihrer Abneigung gegen viele Mitschüler eine überzeugende Ethik bewahrt hat, die ab und an durch die trotzige Teenagerfassade durchschimmert. Eine klare Empfehlung!
Titelbild © Naomi Novik
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