Erhöhtes Strafübel durch mehrere Gesamtstrafen
Allgemeine Ausführungen zur Problematik der Gesamtstrafenbildung hatte ich bereits Anfang Februar gemacht, dabei aber zur Zäsurwirkung eines rechtskräftigen Strafurteils nicht viel gesagt.
Darunter ist zu verstehen, daß ein rechtskräftiges Strafurteil sozusagen einen Einschnitt, eine Zäsur, bildet, und verschiedene nacheinander begangene Straftaten so voneinander trennt, daß für diese keine Gesamtstrafe gebildet werden kann. Denn bei der nachträglichen Gesamtstrafenbildung soll der Angeklagte nicht besser gestellt werden als er es gewesen wäre, wenn alle von ihm begangenen Straftaten jeweils zur Zeit eines jeden Urteiles vollumfänglich bekannt gewesen wären. Daher werden die Einzelstrafen ggf. abschnittsweise zu einer Gesamtstrafe zusammengezogen.
Ein Beispiel - die Taten (und Urteile) folgen folgendermaßen aufeinander:
- Tat 1
- Tat 2
- Urteil 1 (über Tat 2): Einzelstrafe für Tat 2 (später einbezogen in Urteil 4)
- Tat 3
- Tat 4
- Tat 5
- Urteil 2 (über Tat 4 und 5): Einzelstrafen für Taten 4 und 5, zusammengeführt zu einer Gesamtstrafe (später einbezogen in Urteil 3)
- Urteil 3 (über Tat 3): Einzelstrafe für Tat 3, zusammengeführt mit den Einzelstrafen aus dem Urteil 2 zu einer neuen Gesamtstrafe
- Tat 6
- Urteil 4 (über Tat 1 und 6): Einzelstrafe für Tat 1, zusammengeführt mit der Einzelstrafe aus dem Urteil 1 zu einer Gesamtstrafe; weitere Einzelstrafe für die Tat 6
Bei den beiden ersten Urteilen ist die Sache noch einfach: Im ersten Urteil wird nur eine Einzelstrafe (für Tat 2) gebildet, im zweiten Urteil eine Gesamstrafe, gebildet aus den Einzelstrafen für die Taten 4 und 5. Im Urteil 3 ist nun aber nicht nur eine Einzelstrafe für die Tat 3 auszuurteilen, sondern zugleich mit den Einzelstrafe für die Taten 3 und 4 (aus dem Urteil 2) unter Auflösung der dort bisher gebildeten Gesamtstrafe eine neue Gesamtstrafe zu bilden. Und in Urteil 4 sind schließlich wiederum zwei Einzelstrafen für die Taten 1 und 6 auszuurteilen; danach ist dann aus den Einzelstrafen für die Tat 1 und der Einzelstrafe für die Tat 2 (aus dem Urteil 1) eine Gesamtstrafe und daneben eine weitere Einzelstrafe für die Tat 6 auszuurteilen. In diesem Urteil werden also nebeneinander zwei Verurteilungen ausgesprochen. Am Ende bleiben demnach zwei Gesamtstrafen (aus den Urteilen 3 und 4) und eine Einzelstrafe (aus dem Urteil 4); diese drei Strafen sind zu vollstrecken.
Natürlich gilt das vorstehende nur, wenn alle Strafen nicht vollstreckt waren und alle Urteile bereits rechtskräftig … ansonsten kann man den Fall noch beliebig verkomplizieren.
Diese Zäsurwirkung kann also dazu führen, daß in einem Urteil mehrere einzelne (Gesamt-)Strafen festzusetzen sind:
- Taten 1-3
- Taten 4-6
- Urteil 1 (über Taten 1-3)
- Taten 7-9
- Urteil 2 (über Taten 4-9)
Im Urteil 2 sind jetzt zwei Gesamtstrafen zu bilden: einmal für die Taten 1-6 (unter Einbeziehung des Urteils 1 und der dort gebildeten Gesamtstrafe) und einmal für die Taten 7-9. Da kann durchaus einiges zusammenkommen, weil die Gesamtstrafe sich ja durch Erhöhung der höchsten Einzelstrafe ergeben, und diese Einzelstrafe(n) pflegen gerade bei Wiederholungstätern bereits an und für sich recht hoch zu sein. Dieses besondere Strafübel, daß durch das Zusammentreffen mehrerer Gesamtstrafen entsteht, ist bei der Strafzumessung gesondert zu berücksichtigen, wie der BGH in einer Entscheidung vom 22.07. 2009 - 5 StR 243/09 - ausgeführt hat.
Die Vorinstanz, das Landgericht Dresden, hatte (in einer Fallgestaltung wie zuvor dargestellt) den Angeklagten wegen Diebstahls in 13 Fällen und eines versuchten Diebstahls unter Auflösung einer Gesamtstrafe aus einem früheren Urteil (gebildet aus Einzelstrafen von 4, 5 und 8 Monaten) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten und zugleich wegen neun weiterer Diebstähle und eines weiteren versuchten Diebstahls zu der weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 8 Monaten verurteilt. Zudem stand der Angeklagte offenbar unter (Reststrafen-)Bewährung. Bei dem abzusehenden Widerruf wären dann insgesamt annähernd 9 Jahre Freiheitsstrafe zu vollstrecken gewesen (7 Jahre 2 Monate aus den beiden Gesamatstrafen und die Reststrafe, deren Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen wurde). Außerdem kamen noch einige weitere Besonderheiten hinzu - so ein ungewöhnlich lange während Berufungsverfahren mit einer Dauer von zweieinhalb Jahren, das erst dazu führte, daß die ersten "neuen" Diebstähle (oben im Beispiel Taten 4-6) vor dem ersten Urteil lagen, und eine spürbare Erhöhung der Einsatzstrafen -, die den BGH dann schließlich zur Aufhebung des Urteils wegen fehlerhaften Gesamtstrafenbildung brachten (als erfolgreiche Strafmaßrevision ein absoluter Ausnahmefall, weil die Strafzumessung in der Regel das kaum überprüfbare Privileg des erkennenden Gerichts ist):
2. Die Gesamtstrafenaussprüche haben keinen Bestand. Es ist zu besorgen, dass das LG das hohe Gesamtstrafübel nicht zureichend bedacht hat.
Die StrK hat zu Recht dem Urteil des LG Dresden vom 13. 6. 2006 Zäsurwirkung zuerkannt und so zwei Gesamtfreiheitsstrafen gebildet. Nötigt aber die Zäsurwirkung einer einzubeziehenden Verurteilung zur Bildung mehrerer Gesamtstrafen, muss das Gericht einen sich daraus möglicherweise für den Angekl. ergebenden Nachteil infolge eines zu hohen Gesamtstrafübels ausgleichen […].
Diesem rechtlichen Maßstab werden die Strafzumessungserwägungen im angefochtenen Urteil nicht vollständig gerecht. Zwar hat das LG die nachteilige Wirkung des Gesamtstrafübels in den Blick genommen. Von einem Ausgleich dessen hat es indes abgesehen, weil die einbezogenen Einzelfreiheitsstrafen (4, 5 und 8 Monate) "keineswegs geringfügig" waren und der Angekl. seine Diebstahlshandlungen in den Fällen II.15 bis II.24 nur wenige Wochen nach der zäsurbedingenden Verurteilung fortgesetzt habe.
Diese – im Ansatz zutreffenden – Erörterungen greifen hier zu kurz. Insbesondere auch mit Rücksicht auf einen drohenden Widerruf der Aussetzung einer beträchtlichen Reststrafe war die vom LG vorgenommene Gesamtstrafenbildung noch näher zu erörtern. Die StrK hat nicht erkennen lassen, dass sie sich des danach drohenden, insgesamt fast 9 Jahre dauernden Freiheitsentzugs als hier bestimmenden Umstands bewusst gewesen ist. Zudem hat sie eine beträchtliche Erhöhung der jeweiligen Einsatzstrafen (jeweils 1 Jahr und 2 Monate Freiheitsstrafe) bei vergleichsweise eher geringen Einzel- und Gesamtschäden (insgesamt kaum mehr als 20000 €) vorgenommen. Zwei Besonderheiten kommen hinzu:
Die zur Bildung von zwei Gesamtstrafen nötigende Zäsur ist durch eine ganz ungewöhnliche Dauer eines Berufungsverfahrens vor dem LG Dresden von etwa 2½ Jahren zwischen der amtsgerichtlichen Verurteilung vom 24. 1. 2005 und dem Berufungsurteil hervorgerufen worden. Bei gewöhnlicher Verfahrensdauer hätte das Berufungsverfahren vor dem hier abgeurteilten ersten Einbruch (Fall II.1, 30. 12. 2006) abgeschlossen sein müssen. Diese Besonderheit bedurfte der Erörterung und Berücksichtigung bei der Bemessung der Gesamtstrafen.
Nichts anderes gilt für den markanten Unterschied zwischen der massiven Bestrafung des Angekl. und der überaus milden Sanktion gegen seinen an sämtlichen Taten beteiligten Mittäter, auf dessen Geständnis die StrK die Überführung des Angekl. gestützt und den es zu 2 Jahren Gesamtfreiheitsstrafe mit Bewährung verurteilt hat. Eine derart signifikante Diskrepanz der Sanktionen ist jedenfalls erörterungsbedürftig.
Kommentare
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-stm am :
Äh, meinst Du da wirklich:
Oder für die Taten 7-9? Sonst würden ja die Taten 4-6 in zwei Gesamtstrafen und damit doppelt reinzählen?
Oder ist das jetzt das "Erhöhte Strafübel", das dann wieder auszugleichen ist? Noch bin ich nicht durch das Urteilszitat durchgestiegen.
Thomas Hochstein am :
Es muß natürlich "für die Taten 7-9" heißen. Da habe ich mich selbst mit meinem komplizierten Beispielfall verwirrt.
Danke für den Hinweis, ich habe das korrigiert.
Begangen wurden die Taten 1-3. Dann kam es zur Gerichtsverhandlung mit einem Urteil. Das ging in die Berufung. Dieses Berufungsverfahren dauerte zweieinhalb Jahre. Während dieser Zeit kam es zu den Taten 4-6, die also vor Rechtskraft (!) des ersten Urteils lagen. Nach Rechtskraft des ersten Urteils kam es zu den Taten 7-9.
Wäre das Berufungsverfahren in einem normalen Zeitrahmen abgeschlossen gewesen, dann wäre das Urteil 1 vor der Tat 4 rechtskräftig geworden. Dann hätte der Angeklagte die Gesamtstrafe aus dem Urteil 1 (für die Taten 1-3) und eine Gesamtstrafe aus dem Urteil 2 (für die Taten 4-9) bekommen. Die erste Gesamtstrafe dürfte bei Einzelstrafen von 4, 5 und 8 Monaten ungefähr bei einem Jahr gelegen haben, die zweite Gesamtstrafe - 3 Jahre 8 Monate - hätte sich durch die weiteren Taten nicht wesentlich erhöht, jedenfalls nicht um mehrere Jahre.
Jetzt bekommt der Angeklagte aber eine neue Gesamtstrafe (aus 6 Taten statt aus nur 3, und daher spürbar höher) von 3 Jahren 6 Monaten (statt ungefähr 12 Monaten) und zudem noch die 3 Jahre 8 Monate. Das ist in der Summe deutlich mehr, weil die "Aufteilung" der Taten auf die beiden Gesamtstrafen deutlich ungünstiger ausfällt.
Es ist ja so, daß Gesamtstrafen eine "Rabattwirkung" entfalten. Je mehr Einzeltaten abgeurteilt werden, desto weniger fällt die Einzeltat arithmetisch ins Gewicht, weil die Zusammenziehung zur Gesamtstrafe immer enger erfolgt. Mag man bei drei Taten noch nach der Faustformel "Einsatzstrafe plus die Hälfte der addierten beiden weiteren Strafen" zurechtkommen, funktioniert das bei 20, 50 oder 200 Taten natürlich überhaupt nicht mehr. Um es platt zu sagen: Wer 3 Taten begeht, die mit jeweils 3 Monaten Freiheitsstrafe tat- und schuldangemessen geahndet wären, der bekommt vermutlich eine Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Monaten. Wer 100 solche Taten begeht, der kommt zwar nicht mit 6 Monaten weg, aber natürlich auch nicht mit 151 Monaten (3 Monate Einsatzstrafe plus 99x 3 Monate, geteilt durch zwei), also mehr als zwölf Jahren. Er wird aufgrund der Vielzahl der Taten, die auch die Strafzumessung für die Einzeltaten beeinflussen, zwar mit einer höheren Einsatzstrafe zu rechnen habe, aber ingesamt eher mit einer Gesamtstrafe von 2-3 Jahren zu rechnen habe. Für 50 Taten bekäme er nicht wesentlich weniger.
Wenn also erst 2 und dann 98 Taten abgeurteilt werden, ist das für den Angeklagten deutlich günstiger, als wenn zweimal 50 Taten abgeurteilt werden. Das ist das gemeinte Übel, das bei der Strafzumessung in den Blick zu nehmen ist.
-stm am :
OK, das erklärt dann alles.
Und der Grund für die Zäsur zwischen T4-6 und T7-9 ist dann im Endeffekt, daß der Täter mit T7-9 Straftaten nach einer ergangenen Verurteilung begangen hat und damit (Stichwort Spezialprävention) trotz einer staatlichen Sanktion auf sein Unrecht weiter rechtsuntreu gewesen ist, ja?
Weil, so einen Fall habe ich nämlich kommende Woche zu verhandeln … und bin dann diesmal per google zu Dir gekommen.
-stm am :
hihi
und dann haben wir die beiden Taten, die vor der alten Verurteilung lagen, nach § 154 II StPO eingestellt ….
Thomas Hochstein am :
So geht’s natürlich auch.