Beschlagnahme von E-Mails: BVerfG bestätigt BGH
Ich hatte bereits am 20.05.2009 über die bemerkenswerte Entscheidung des BGH zur Beschlagnahme von E-Mails beim Provider ("in der Mailbox") berichtet, nach der die Vorschriften über die Postbeschlagnahme einschlägig sind, nicht etwa § 100a StPO, mit der Folge, daß weder eine Katalogtat noch ein gesteigerter Tatverdacht ("bestimmte Tatsachen") noch eine ultima-ratio-Situation vorliegen müssen. Ich hatte dabei auch bereits (vielleicht etwas süffisant) angemerkt, daß das BVerfG schon seit Ende 2006 anläßlich einer Verfassungsbeschwerde über dieser Frage brütet.
Nunmehr hat man dort zu Ende gebrütet und im Ergebnis die Ansicht des BGH bestätigt bzw. ist noch über diese Ansicht hinausgegangen. Mit Beschluß vom 16.06.2009 - 2 BvR 902/06 - hat das BVerfG festgehalten, daß die Beschlagnahme von E-Mails, die beim Provider gelagert sind, zwar in das Grundrecht aus Art. 10 GG eingreift, die allgemeinen Beschlagnahmevorschriften aber (bei besonderer Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes) zur Rechtfertigung des Eingriffs genügen, und die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen.
Im einzelnen finden sich folgende interessante Erwägungen in der Entscheidung:
Die strafprozessualen Regelungen der §§ 94 ff. StPO ermöglichen grundsätzlich die Sicherstellung und Beschlagnahme von E-Mails, die auf dem Mailserver des Providers gespeichert sind.
Das bedeutet, daß weder die Voraussetzungen des § 100a StPO noch - wie der BGH annahm - die Voraussetzungen des § 99 StPO (mit den Einschränkungen aus § 100 StPO bzgl. der Anordnungskompetenz und der Vorgehensweise) notwendig sind, sondern eine ganz einfache Beschlagnahme vorliegt.
Soweit Eingriffe der hier zu beurteilenden Art auf § 99 StPO […] oder § 100a StPO […] gestützt werden, wird dadurch die Anwendbarkeit der §§ 94 ff. StPO nicht in Frage gestellt.
Es schadet aber nicht, wenn die E-Mail-Beschlagnahme auf §§ 99, 100a StPO gestützt wird, weil das den Beschuldigten nicht belastet.
Unter diesen Umständen ist es zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit nicht geboten, den Zugriff auf beim Provider gespeicherte E-Mails auf Ermittlungen zu begrenzen, die zumindest Straftaten von erheblicher Bedeutung betreffen, und Anforderungen an den Tatverdacht zu stellen, die über den Anfangsverdacht einer Straftat hinausgehen.
[…]
Soweit das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung von Einzelmaßnahmen, die auf Erlangung der bei einem Telekommunikationsmittler gespeicherten Verbindungsdaten gerichtet waren, eine Beschränkung auf Ermittlungen betreffend Straftaten von erheblicher Bedeutung für notwendig gehalten hat […], kann dies auf die Sicherstellung und Beschlagnahme der beim Provider gespeicherten E-Mails nicht übertragen werden.
Die besonderen Voraussetzungen des § 100a StPO (Katalogtat, gesteigerter Tatverdacht) sind nicht erforderlich.
Dem Schutz des Fernmeldegeheimnisses muss bereits in der Durchsuchungsanordnung, soweit die konkreten Umstände dies ohne Gefährdung des Untersuchungszwecks erlauben, durch Vorgaben zur Beschränkung des Beweismaterials auf den tatsächlich erforderlichen Umfang Rechnung getragen werden, etwa durch die zeitliche Eingrenzung oder die Beschränkung auf bestimmte Kommunikationsinhalte.
Bei dem Vollzug von Durchsuchung und Beschlagnahme - insbesondere beim Zugriff auf umfangreiche elektronisch gespeicherte Datenbestände - sind die verfassungsrechtlichen Grundsätze zu gewährleisten, die der Senat in seinem Beschluss zur Durchsuchung und Beschlagnahme eines umfangreichen elektronischen Datenbestands […] entwickelt hat. Hierbei ist vor allem darauf zu achten, dass die Gewinnung überschießender, für das Verfahren bedeutungsloser Daten nach Möglichkeit vermieden wird. Die Beschlagnahme sämtlicher gespeicherter Daten und damit des gesamten E-Mail-Verkehrs wird regelmäßig nicht erforderlich sein.
Letztlich ist also die Beschlagnahme beim Provider so durchzuführen, wie sie auch beim Beschuldigten selbst durchzuführen wäre; es macht keinen Unterschied, ob er seine (gelesenen und ungelesenen) E-Mails beim Provider in der Mailbox lagert oder sie (per POP3) abruft und daheim auf dem eigenen Rechner speichert.
Das BVerfG gibt dann noch Hinweise zu verfassungskonformen Ausgestaltung der E-Mail-Beschlagnahme:
Den sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergebenden Anforderungen kann bei der Sicherstellung und Beschlagnahme von auf dem Mailserver des Providers gespeicherten E-Mails in vielfältiger Weise Rechnung getragen werden.
a) Wird festgestellt, dass sich auf dem Mailserver überhaupt keine verfahrenserheblichen E-Mails befinden können, wäre eine Sicherstellung schon ungeeignet.
b) Soweit davon auszugehen ist, dass auf dem Mailserver unter anderem potenziell beweiserhebliche E-Mails gespeichert sind, ist zu prüfen, ob eine Sicherstellung aller gespeicherten E-Mails erforderlich ist. Der dauerhafte Zugriff auf den gesamten E-Mail-Bestand ist nicht erforderlich, wenn eine Sicherung allein der beweiserheblichen E-Mails auf eine andere, die Betroffenen weniger belastende Weise ebenso gut erreicht werden kann. Die Gewinnung überschießender und vertraulicher, für das Verfahren aber bedeutungsloser Informationen muss im Rahmen des Vertretbaren vermieden werden.
c) Soweit eine Unterscheidung der E-Mails nach ihrer potenziellen Verfahrenserheblichkeit vorgenommen werden kann, ist die Möglichkeit einer Trennung der potenziell beweiserheblichen von den restlichen E-Mails zu prüfen. In Betracht kommt neben dem Erstellen einer (Teil-)Kopie hinsichtlich der verfahrenserheblichen E-Mails das Löschen oder die Herausgabe der für das Verfahren irrelevanten E-Mails.
d) Je nach den Umständen des Einzelfalls können für die Begrenzung des Zugriffs unterschiedliche, miteinander kombinierbare Möglichkeiten der materiellen Datenzuordnung in Betracht gezogen werden. Sie müssen, bevor eine endgültige Beschlagnahme sämtlicher E-Mails erwogen wird, ausgeschöpft werden. Von Bedeutung ist hierbei vor allem die Auswertung der Struktur eines gespeicherten E-Mail-Bestands, der beispielweise themen-, zeit- oder personenbezogen geordnet sein oder geordnet werden kann. Bei der Suche nach ermittlungsrelevanten E-Mails ist auch eine Auswahl anhand bestimmter Übermittlungszeiträume oder Sender- und Empfängerangaben in Betracht zu ziehen. Eine Zuordnung der E-Mails nach ihrer Verfahrensrelevanz kann unter Umständen auch mit Hilfe geeigneter Suchbegriffe oder Suchprogramme gelingen.
e) Eine sorgfältige Sichtung und Trennung der E-Mails nach ihrer Verfahrensrelevanz wird am Zugriffsort nicht immer möglich sein. Sofern die Umstände des jeweiligen strafrechtlichen Vorwurfs und die - auch technische - Erfassbarkeit des Datenbestands eine unverzügliche Zuordnung nicht erlauben, muss die vorläufige Sicherstellung größerer Teile oder gar des gesamten E-Mail-Bestands erwogen werden, an die sich eine Durchsicht gemäß § 110 StPO zur Feststellung der potenziellen Beweiserheblichkeit und -verwertbarkeit der E-Mails anschließt.
Das Verfahrensstadium der Durchsicht gemäß § 110 StPO ist der endgültigen Entscheidung über den Umfang der Beschlagnahme vorgelagert […]. Es entspricht dem Zweck des § 110 StPO, im Rahmen des technisch Möglichen und Vertretbaren lediglich diejenigen Informationen einem dauerhaften und damit vertiefenden Eingriff zuzuführen, die verfahrensrelevant und verwertbar sind. Während das Verfahren der Durchsicht auf der Grundlage der vorläufigen Sicherstellung zum Zweck der Feststellung der potenziellen Beweiserheblichkeit und -verwertbarkeit auf die Vermeidung eines dauerhaften und umfassenden staatlichen Zugriffs nebst den hiermit verbundenen Missbrauchsgefahren abzielt, würde bei einer endgültigen, bis zum Verfahrensabschluss wirkenden Beschlagnahme des gesamten E-Mail-Bestands der staatliche Zugriff zeitlich perpetuiert und damit erheblich intensiviert.
f) Ist den Strafverfolgungsbehörden im Verfahren der Durchsicht unter zumutbaren Bedingungen eine materielle Zuordnung der verfahrenserheblichen E-Mails einerseits oder eine Löschung oder Rückgabe der verfahrensunerheblichen E-Mails an den Nutzer andererseits nicht möglich, steht der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit der Maßnahme einer Beschlagnahme des gesamten Datenbestands nicht entgegen. Es muss dann aber im jeweiligen Einzelfall geprüft werden, ob der umfassende Datenzugriff dem Übermaßverbot Rechnung trägt.
Dieser Ausführungen offenbar (ein überraschendes) Augenmaß und einen Blick für die Praxis, in der bspw. eine Sichtung von Datenbeständen im Umfang mehrerer MB oder GB vor Ort nicht möglich ist (und auch sonst Wochen und länger in Anspruch nehmen kann - schon deshalb, weil sonst durch die Verteidigung mit Sicherheit der Einwand erhoben wird, bei der Suche nach Schlagworten seien entlastende E-Mails übersehen worden, die dann ggf. auch vorgelegt werden, unabhängig davon, ob sie zum Zeitpunkt der Durchsuchung schon bestanden oder nachträglich fabriziert wurden …).
Man wird also größere E-Mail-Bestände zunächst komplett sicherstellen, dann komplett sichten können und erst dann entscheiden, welche davon als verfahrens- und beweisrelevant gespeichert bleiben und welche auszuhändigen oder zu löschen sind.
Das BVerfG übersieht im übrigen nicht, auch seine Rechtsprechung zum Kernbereichsschutz entsprechend anzuwenden:
g) Die nach Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Unantastbarkeit der Menschenwürde fordert auch im Gewährleistungsbereich des Art. 10 GG Vorkehrungen zum Schutz individueller Entfaltung im Kernbereich privater Lebensgestaltung. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass bei der Erfassung der Kommunikationsinhalte personenbezogene Daten betroffen sind, die sich auf den Kernbereich höchstpersönlicher Lebensgestaltung beziehen.
Die weiteren Ausführungen dazu entsprechen der im Rahmen verdeckter Maßnahmen (TKÜ, "Lauschangriff") gefestigten verfassungsgerichtlichen Judikatur.
Weiter konstituiert das BVerfG Benachrichtigungspflichten:
Werden in einem Postfach auf dem Mailserver des Providers eingegangene E-Mails sichergestellt, ist zum Schutz des Postfachinhabers, in dessen Recht auf Gewährleistung des Fernmeldegeheimnisses durch die Sicherstellung eingegriffen wird, zu fordern, dass er im Regelfall zuvor von den Strafverfolgungsbehörden unterrichtet wird, damit er jedenfalls bei der Sichtung seines E-Mail-Bestands seine Rechte wahrnehmen kann. Ausnahmen von der Unterrichtungspflicht können geboten sein, wenn die Kenntnis des Eingriffs in das Fernmeldegeheimnis dazu führen würde, dass dieser seinen Zweck verfehlt […]. Werden auf dem Mailserver des Providers gespeicherte E-Mails ausnahmsweise ohne Wissen des Postfachinhabers sichergestellt, so ist dieser so früh, wie es die wirksame Verfolgung des Ermittlungszwecks erlaubt, zu unterrichten.
Auch insoweit wird die Beschlagnahme beim Provider also der Beschlagnahme beim Beschuldigten angenähert.
Schließlich erwägt das BVerfG Anwesenheits-, weitergehende Benachrichtigungspflichten und Löschungspflichten ähnlich den in § 101 StPO vorhandenen Regelungen für verdeckte Ermittlungsmaßnahmen (aber keine Kennzeichnungspflicht!), die es durch vorhandene Vorschriften der StPO (§§ 147, 385 Abs. 3, 397 Abs. 1 Satz 2 i.V.m § 385 Abs. 3, 406e, 475, 491, § 489 Abs. 2 StPO) bei entsprechender Auslegung abgedeckt sieht:
Zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit kann es im Einzelfall von Verfassungs wegen geboten sein, den Inhaber der sichergestellten E-Mails in die Prüfung der Verfahrenserheblichkeit einzubeziehen.
[…]
Soweit E-Mails von den Ermittlungsbehörden gespeichert und ausgewertet werden, kann es geboten sein, den Betroffenen Auskunft über die Datenerhebung zu erteilen, um sie in den Stand zu versetzen, etwaige Grundrechtsbeeinträchtigungen abzuwehren.
[…]
Der begrenzte Zweck der Datenerhebung gebietet grundsätzlich die Rückgabe oder Löschung aller nicht zur Zweckerreichung benötigten kopierten E-Mails.
[…]
Einer Kennzeichnungspflicht […] bedarf es bei der Sicherstellung und Beschlagnahme von auf dem Mailserver des Providers gespeicherten E-Mails aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht.
Insgesamt eine erfreulich abgewogene, sehr interessante Entscheidung, die sicherlich weiteren Diskussions- und Besprechungsbedarf bietet. Aus zeitlichen Gründen kann ich leider vorerst nur den obigen ausschnittsweisen Überblick bieten.
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