Bahnfahren, wenn der Fahrdraht brennt
Am vorletzten Arbeitstag vor Weihnachten soll man nicht mehr so lange im Büro sitzen, dachte ich mir, und stand folglich schon um 20.05 Uhr am hiesigen Hauptbahnhof und harrte des IC, der da kommen sollte, gestärkt von 30 Minuten Aufenthalt in der Lounge und anderthalb Tassen Kaffee, bitter nötig bei dem leichten Schneetreiben, das gerade herrscht. Aber es waren ja nur noch 63 Minuten bis zum heimischen Bahnhof. Dass der Zug pünktlich einfuhr, hätte mich schon misstrauisch machen sollen; doch arglos stieg ich ein, um mich häuslich mit meinem Laptop einzurichten und kurz darauf der Ansage lauschen zu müssen, wegen "einer polizeilichen Anordnung bei Zuffenhausen" sei "die Abfahrt unseres Zuges auf unbestimmte Zeit ver—-spätet". Wer die Bahn auch nur etwas kennt, weiss, dass das nicht gut ist, Ansagen dieser Art werden gerne nach einiger Zeit durch "Sehr geehrte Damen und Herren, dieser Zug fällt aus betrieblichen Gründen heute leider aus, wir danken für ihr Verständnis" ersetzt.
Also nutzte ich die Gelegenheit, um schon einmal telefonisch anzukündigen, man müssen mein Eintreffen um 21.08 Uhr gar nicht erst erwarten, ich riefe an, wenn selbiges denn abzusehen sei. Nun, um 21.08 Uhr standen wir dann immer noch in Stuttgart im Bahnhof, man hatte die "polizeiliche Anordnung" zwischendurch zu einem "polizeilichen Einsatz" und diesen dann zu einem "Einsatz der Feuerwehr" modifiziert, die Heizung wollte auch nicht so richtig, ich hatte allmählich Hunger, aber wenigstens funktionierte die Stromversorgung für den Laptop, und das Handy hatte Netz - so konnte man im IRC auf dem Laufenden bleiben, um zu erfahren, was denn nun eigentlich Sache sei, nachdem sich die Bahn inzwischen zu einem "brennenden Fahrdraht bei Zuffenhausen" verstiegen hatte (komisch, hätte nicht gedacht, dass das Zeug brennbar ist, aber der Bahn traue ich inzwischen alles zu ). Es brannte wohl ein Kabelschacht …
Nach "kurzer" Zeit erklärte man, die Strecke bleibe auch bis auf weiteres gesperrt, aber man fahre "in wenigen Minuten" los, um eine Umleitung über Untertürkheim zu nutzen. Aus den wenigen Minuten wurden ein paar mehr, aber schon mit 100 Minuten Verspätung kam es tatsächlich zur Abfahrt. Man hielt noch ein paar Mal auf freier Strecke, stand in Untertürkheim nochmal 20 Minuten zwecks "Wechsel des Führerstandes", und fuhr dann in umgekehrter Richtung weiter - glücklicherweise allerdings nicht, wie zunächst von einigen mißtrauischen (besser wohl: bahnkundigen) Fahrgästen vermutet, zurück zum Hauptbahnhof. Unnötig zu sagen, dass während des "Führerstandswechsels" der Zug wohl abgerüstet (?) und es allmählich wirklich kalt dort drinnen wurde. Der mit Spannung erwartete Auftritt der Zugbegleiter wurde dann mit brüllendem Gelächter und Beifall begrüßt, nachdem man es tatsächlich fertigbrachte, den Großraumwagen mit dem flotten und geschäftsmäßigen Spruch "Guten Abend, die Fahrscheine bitte!" zu betreten.
Die wurden dann eifrig mit Verspätungsbescheinigungen (oder dem Hinweis auf die ausgeteilten Gutscheine?) bekritzelt, und Gutscheine zu je 25,- EUR ausgeteilt. Offensichtlich hat man bei der Bahn Mitarbeiter, die Freunde bissiger Ironie sind, sonst hätte man die Dinger nicht ausgerechnet "Pünktlichkeitsgutscheine" genannt … Nun ja, beim Austeilen wurden sie jedenfalls wie gewohnt als "Verspätungsgutscheine" bezeichnet :-), und man kann sie jedenfalls binnen zwei Monaten (so steht es auf der Rückseite) oder binnen sechs Monaten (so wurde es mündlich erläutert) einlösen. Dass eine ältere Mitfahrerin das Ding mit einem Taxigutschein verwechselte und dann alle Leute verwirrte, weil sie immer wiederholte, die 25,- EUR würden ihr fürs Taxi doch nicht reichen, machte die Sache im übrigen im weiteren Verlauf nicht übersichtlicher. Bei mir war die Sache mit den Gutscheinen dann wohl wieder etwas komplizierter - klar, auf einer BahnCard 100 kann man so schlecht handschriftliche Vermerke anbringen. Zugbegleiter Nummer 1 wollte dann auch nicht so recht, aber nachdem sein Kollege nach kurzem Blick auf mich meinte "Ach, der sieht ehrlich aus, gib ihm einen", kam auch ich in den Genuss. Und es gab sogar noch gratis gute Ratschläge, was man damit anfangen soll (ich glaube nicht, dass ich in den nächsten zwei Monaten besonders viele Fahrkarten zu kaufen habe): "Aber der kann doch gar nichts damit anfangen?" - "Ach, er kann ihn ja verschenken. Oder bei ebay verkaufen." - Man sieht, die Bahn kennt sich aus. Und als Lohn der Mühe gab es ein neues Stück für meine Sammlung …
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