Wenn mal wieder jemand im Weg stand ...
Wieder einmal sind die nordgehenden Züge schwer verspätet; der IC mit Planabfahrt 20.05 Uhr ist mit "über 40 Minuten verspätet" angeschrieben, ein schlechtes Zeichen. Und Ursache soll mal wieder ein Personenschaden sein; das läßt auch nichts gutes ahnen. In der Lounge - jaja, ohne Netzanbindung - erfährt man sodann, die derzeitige Verspätung betrage ca. 55 Minuten. Das würde bedeuten, dass mit einer Abfahrt gegen 21 Uhr zu rechnen wäre; gar kein schlechtes Timing, denn die Lounge schließt um 21 Uhr, und so weit geht der Service dann nun doch nicht, dass man nur der Reisenden wegen, die vertragswidrig und ohne Schadenersatz eine Stunde herumstehen oder -sitzen dürfen, die Öffnungszeiten verlängert. Wo käme man da auch hin? Also geht’s um kurz vor neun raus in die relative Kälte, einen Blick auf die Abfahrtstafel riskieren. An Gleis 11 ist aber noch nichts zu sehen, noch nicht mal der normale Zugzielanzeiger mit Hinweis auf die Verspätung.
Also geht’s rüber zum Service-Point, zwecks Nachfrage. Und siehe da, binnen 5-10 Minuten sind aus den 55 Minuten Verspätung 66 Minuten geworden. Und dieses Wunder wiederholt sich; denn kaum trudelt der ICE Richtung Norden (Planabfahrt 19.51 Uhr) so gegen 21.10 Uhr ein, ergibt eine (zufällige!) Nachfrage beim Servicepersonal, nach deutlich weniger als 10 Minuten, dass die Verspätung des IC nunmehr über 80 Minuten beträgt, Tendenz steigend; und man wäre gut beraten, zunächst mal den ICE zu benutzen und dann ab Mannheim zu schauen, ob es nicht frühere Fahrtmöglichkeiten gäbe.
Gesagt, getan, allmählich schon etwas verärgert wird der ICE geentert und ein Sitzplatz gefunden, sogar an einem Tisch, gegenüber von einem etwas genervt wirkenden Geschäftsmann, neben einer Runde von vier fröhlichen Bankern und Bankerinnen, im Wagen hinter dem Bistro, in dem ein Vierertisch bereits alle Hoffnung fahren gelassen hat und offensichtlich zu der weisen Erkenntnis gekommen ist, dass Bahnfahren nüchtern nur schwer erträglich ist. Jedenfalls ist die Zunge schon recht schwer und der Gang alles andere als sicher, und das Bistro kämpft mit Versorgungsengpässen an Weizenbier.
Nach der Abfahrt hole ich mir dann eine Beratung beim Zugchef über Anschlussmöglichkeiten; er macht sich da wirklich Mühe, das muss man ihm lassen, und wirft reihenweise Verbindungen aus dem Computer aus, wobei natürlich noch niemand weiss, wann wir in Mannheim sind, was Prognosen etwas erschwert. Sogar einen Verspätungsgutschein gibt es anstandslos, obwohl man die Ausgabe desselben auf der Bahncard 100 - wie richtig erkannt wird - nicht vermerken kann.
Wieder am Platz angekommen nähert sich nach einiger Zeit die Fahrkartenkontrolle; der Geschäftsmann gegenüber bittet auch um einen Verspätungsgutschein, und zwar angesichts der nunmehr gut 90minütigen Verspätung um einen der teureren Sorte, zu 25 EUR. Damit beisst er aber auf Granit: denn das staunende Publikum bekommt zu hören, Anspruch auf einen solchen gebe es nur, wenn man 90 Minuten an einem Stück stände. Man habe aber im vorliegenden Fall die Verspätung allmählich akkumuliert; das gelte nicht. Großes Gelächter in der Runde, auch ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, aber man blieb eisern, auch auf den Hinweis "Sie müssen ja selbst lachen, meinen Sie das wirklich ernst? Wo ist denn da der Sinn?" gab’s als Antwort nur, ein Sinn sei nicht erkennbar, aber das sei so von oben bestimmt worden (mit dem deutlichen Unterton, es handele sich in beiden Fällen nicht um Einzelfälle, die zudem gerne zusammen auftreten *g*). Außerdem habe man gar keine der 25-EUR-Gutscheine mehr. Und die gebe es ohnehin normalerweise nicht bei höherer Gewalt wie hier; man solle also froh sein, überhaupt etwas zu bekommen.
So weit, so gut, jetzt war auch der Zugchef so weit und konnte eine etwas verwirrte Ansage machen, deren wesentlicher Inhalt wohl das ehrliche Eingeständnis war, es sei "alles ein ziemliches Chaos", aber er werde sein bestes Tun, die Anschlusszüge vorzumelden und uns mitzuteilen. Nach längerer Zeit erwies sich allerdings, dass dieser kreisende Berg nur eine Maus gebar: der einzige Anschluss, den er definitiv zusichern konnte, war nämlich der IC Richtung Saarbrücken. Kunststück, denn wie er unter lautem Gelächter der Banker nebenan und zur ständig wachsenden Verzweiflung meines Gegenübers mitteilen konnte: "Dieser Zug befindet sich 10 bis 20 Minuten hinter uns, so dass er auf jeden Fall erreicht werden wird." Und dann wurde allen anderen nordwärts strebenden Reisenden empfohlen, in Mannheim auf einen bestimmten anderen ICE umzusteigen und dort noch einmal nachzufragen; die Nichterreichung von in Norddeutschland gelegenen Reiseziel war allerdings bereits absehbar. Um das Erlebnis allerdings wirklich unvergesslich zu machen, verlangsamte der Zug kurz darauf und das staunende Publikum durfte sinngemäß vernehmen: "Sehr geehrte Damen und Herren, unser Zug hält in Kürze heute außerplanmäßig in Hockenheim. Dies deshalb, damit wir auch noch irgendwie nach Hause kommen. Ihr Intercity-Team aus München verabschiedet sich hiermit von Ihnen. Wir wünschen Ihnen noch eine gute Weiterfahrt und einen schönen Abend." - Sprach’s und wart nicht mehr gesehen, nachdem der Zug in diesem Moment dann auch ausrollte und anhielt.
Der Herr mir gegenüber begann offensichtlich nunmehr endgültig an seiner Wahrnehmung der Realität zu zweifeln; und während wir ein gutes Viertelstündchen herumstanden, erzählte er über Handy dann offensichtlich Angehörigen voller Verzweiflung, er wisse nicht, wann und ob überhaupt er heute noch nach Hause komme; jetzt seien auch noch die Zugbegleiter verschwunden und wann und wie man weiterfahre, sei noch völlig unklar. Man muss ihm auch zugestehen, sehr viel unsensibler kann man die Tatsache, dass der Zug außerplanmäßig hält und noch 15 Minuten Verspätung kassiert, damit das Personal rechtzeitig nach Hause kommt, kaum verkaufen. Für ihre Kunden kommt die Bahn üblicherweise ja noch nicht mal auf den Gedanken, solche Operationen vorzunehmen.
Ähnlich kundenfreundliche Szenen setzten sich dann in Mannheim am Service-Point fort, wo Reisenden dann Busverbindungen aufgeschwätzt wurden, die sie auch noch selbst bezahlen und den Fahrschein zur Erstattung einreichen sollten. Ich hätte ja auf einem Taxi-Gutschein bestanden … Übrigens gab’s auch dort, nun mit nachgewiesenen über 100 Minuten Verspätung, keinen 25-EUR-Gutschein, denn "die gebe es nur in Zügen". Aus Kulanz spendierte man mir aber immerhin einen zweiten 10er; "dann fehlen Ihnen ja nur noch 5 EUR". Immerhin, nachdem wir das geklärt hatten und ich dann endlich erfahren konnte, welcher Zug denn als nächster fährt, war der berühmte, hinter uns herfahrende IC gerade weg, so dass ich noch eine Stunde Warten und S-Bahn-Fahrt anhängen durfte. *seufz*
Kommentare
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Martin am :
Oje, oh weh: Irgendwie kommt mir das bekannt vor. Aber sowas habe ich wirklich noch nie gehört. Dass das Zugpersonal den Zug verlässt, das grenzt geradezu an eine Unverschämtheit (wiewohl man menschlich das verstehen könnte). Aber so geht das doch nicht: Sagt der Chirurg während der OP: "Tschüssing, zuhause brennt mir sonst das Spiegelei an."
Was ich vor allem nicht leiden kann, ist die Verweisung. "Steigen sie erst mal aus, dort wird man ihnen weiterhelfen." Dort dann, das hätten Sie im Zug erledigen müssen … etc. pp."
Meinen Bekannten sage ich jedenfalls immer, fahrt nicht mit mir im gleichen Zug, es sei denn ihr wollt bahntechnische Katastrophen erleben.
neko-chan am :
Faszinierend. 1. dass die Kunden sich das gefallen lassen und 2. dass die Bahn damit , ohne die geringsten Konsequenzen, durchkommt! Eher im Gegenteil…| Jeder andere Betrieb hätte schon längst dichtmachen können wenn er seine Kunden so behandelt. kopfschüttel
Thomas Hochstein am :
Martin: Naja, sie wurden halt ausgetauscht gegen das Personal eines Zuges aus der Gegenrichtung. Dennoch, der Aufenthalt hat die Verspätung nochmal kräftig erhöht.