Halbgötter in Weiß?
"Salus aegroti suprema lex" - das Wohl des Kranken ist das oberste Gesetz, so sagte man früher. Heute gilt allerdings der Satz "voluntas aegroti suprema lex" - der Wille des Kranken ist das oberste Gesetz: nicht das medizinisch Vernünftige ist maßgebend, sondern das, was der aufgeklärte, entscheidungsfähige Patient für sich wünscht, mag es auch objektiv unvernünftig sein.
Dieser Gegensatz - und auch die Änderung des ärztlichen Tuns über die Zeiten - wird schlaglichtartig beleuchtet in der Entscheidung des OLG Koblenz vom 13.07.2006 - 5 U 290/06 -.
Die im Jahre 1953 geborene Klägerin entband 1975, als die Uhren in der Medizin noch anders gingen, als 22jährige ihr zweites Kind per Kaiserschnitt. Der operierende Gynäkologe stellte bei der Operation Verwachsungen am Bauchfell fest, die den Wiederverschluss schwierig gestalteten, so daß zukünftige ähnliche Eingriffe, insbesondere ein weiterer Kaiserschnitt "deshalb nicht zu empfehlen" seien, so wörtlich der Operationsbericht aus dem Jahre 1975. Deshalb nahm der Operateur direkt im Rahmen der Schnittentbindung des Kindes eine Sterilisation der Frau durch Durchtrennung der Eileiter vor. Eine solche Maßnahme war zuvor mit der Schwangeren nicht besprochen worden. Es konnte auch nicht mehr positiv festgestellt werden, ob der Operateur es für nötig befand, sie nach der Operation von seiner Entscheidung in Kenntnis zu setzen. Die Patientin gab jedenfalls an, jahrelang weiter Verhütungsmittel genommen zu haben, bis sie 1994 mit ihrem neuen Ehepartner einen erneuten Kinderwunsch entwickelte. Erst im Jahre 2001 habe sie von der Sterilisation erfahren.
Ungeachtet dessen stellte das OLG unter Abänderung der klageabweisenden Entscheidung des Landgerichts Bad Kreuznach fest, dass die Sterilisation nicht nur durch keine ausdrückliche Einwilligung der Patientin - mit der ja gar nicht darüber gesprochen worden war - gedeckt war, sondern auch keine hypothetische oder mutmaßliche Einwilligung in Betracht kommt. Es habe einer damals so jungen Frau angesichts eines für die Lebensplanung so einschneidenden und endgültigen Eingriffes selbst überlassen bleiben müssen, ob sie sich - angesichts der durchaus bestehenden Gefahren einer erneuten Bauchoperation - für eine Sterilisation, für Verhütung oder Enthaltsamkeit entscheiden wollte, auch angesichts des Fortschritts der Medizin und in der Hoffnung auf eine spätere andere Lösungsmöglichkeit. Selbst angesichts dessen, daß auch eine spätere erneute Bauchoperation zur Sterilisation gleichfalls dieselben Risiken wie ein erneuter Kaiserschnitt in sich trage, sei die Entscheidung des Operateurs nicht zu rechtfertigen. Denn bereits damals war die Möglichkeit laparoskopischer Sterilisationen - also eines minimal-invasiven Eingriffs ohne die Eröffnung der Bauchdecke - in der Diskussion; diese wurden kurz darauf auch praktisch erprobt.
Die Chance, an diesem medizinischen Fortschritt teilzuhaben, durfte der damals erst 22 Jahre alten Klägerin nicht vorenthalten werden.
Das Oberlandesgericht verurteilte die Erben des Operateurs zu einer Schmerzensgeldzahlung von 15.000,- €.
Kommentare
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-stm am :
schluck
"Der operierende Gynäkologe stellte bei der Operation Verwachsungen am Bauchfell fest, die den Wiederverschluss schwierig gestalteten, …"
ich dachte, jetzt kommt sowas wie "… und entfernte daher - ohne Nachfrage - die Verwachsungen."
Aber mal eben eine Sterilisation!?!?!? "Halbgötter" scheint diesen Fall nur "halb" zu beschreiben.